Acta ornithoecologica • Jena 4.2-4 (2001) 75-236


Scheller, W., U. Bergmanis, B.-U. Meyburg, B. Furkert, A. Knack & S. Röper:

Raum-Zeit-Verhalten des Schreiadlers (Aquila pomarina)

Home range size, habitat utilisation and time budgets of Lesser Spotted Eagles (Aquila pomarina)

Zusammenfassung

Im Rahmen des BMBF-Verbundprojektes "Auswirkungen und Funktion unzerschnittener störungsarmer Landschaftsräume für Wirbeltierarten mit großen Raumansprüchen" wurde im Zeitraum von 1994-1997 das Raum-Zeit-Verhalten von Schreiadlern aquila pomarina unter besonderer Berücksichtigung von Störungen und Zerschneidungen der Landschaft erforscht. Hierzu wurden in Mecklenburg-Vorpommern in unterschiedlichen Naturräumen insgesamt 9 Schreiadler (8 Männchen und 1 Weibchen) und dazu vergleichend in Lettland 5 Schreiadler (4 Männchen und 1 Weibchen) mittels Radiotelemetrie untersucht.

Hinsichtlich der home range-Größe (Männchen mit Bruterfolg) konnte festgestellt werden, daß die insgesamt während der Brotzeit genutzten home ranges in Mecklenburg-Vorpommern bedeutend größer waren als die in Lettland. So betrug die home range-Größe in Mecklenburg-Vorpommern im Mittel 2.711,2 ha und in Lettland im Mittel nur 1.142,7 ha. Das Maximum wurde in Mecklenburg-Vorpommern mit 3.393,8 ha und in Lettland nur mit 1.552 ha erreicht. Das Minimum hatte in Mecklenburg-Vorpommern eine Größe von 2.218,5 ha und in Lettland hatte es nur eine Größe von 672 ha. Trotz der großen Unterschiede der Gesamtgröße der home ranges zwischen den deutschen und lettischen Revieren gab es bei der Größe des täglich genutzten home range keine so deutlichen Unterschiede zwischen den in Mecklenburg-Vorpommern und den in Lettland untersuchten Adlern. So schwankten die Mittelwerte der täglichen home ranges bei den deutschen Adlern (mit Bruterfolg) zwischen 347,3 ha und 483,8 ha (MW=471,9 ha) und bei den lettischen Adlern (mit Bruterfolg) zwischen 244,3 ha und 489,3 ha (MW=361,2 ha). Auch der von diesen Adlern erreichte Maximalwert einer täglichen home range­Größe unterscheidet sich nicht wesentlich voneinander, so lag er in Mecklenburg-Vorpommern bei 1.287,5 ha und in Lettland bei 1. 156,0 ha.

Bei allen untersuchten Adlern wurden die Offenlandbereiche stärker zur Jagd genutzt als die bewaldeten Bereiche. Die Unterschiede zwischen den lettischen und deutschen Adlern sind hierbei nur geringfügig. Bei allen untersuchten lettischen Adlermännchen und bei den meisten deutschen Adlermännchen konnte eine deutliche Bevorzugung von Grünlandflächen als Jagdhabitat festgestellt werden. Das Grünland wurde in Lettland im Mittel häufiger und länger zur Jagd genutzt (39 % der Jagddauer) als in Mecklenburg-Vorpommem (24,5 % der Jagddauer). Das Angebot an entsprechenden Nahrungsflächen war in den lettischen Revieren auch entsprechend höher. Bei der Jagdnutzung von Ackerflächen war das Verhältnis umgekehrt. So nutzten die Adler in Mecklenburg-Vorpornmern auf Grund des geringeren Grünlandanteiles und des entsprechend höheren Ackeranteiles in den Jagdrevieren auch bedeutend häufiger die Ackerflächen als die Adler in Lettland.

Von den Ackerflächen wurden in Mecklenburg-Vorpommern Getreidekulturen und Stillegungsflächen während der gesamten Vegetationsperiode bevorzugt bejagt, Raps- und Maisflächen hingegen wurden in der Regel erst nach der Ernte genutzt.

Hinsichtlich des Anteiles der einzelnen Jagdmethoden gab es deutliche Unterschiede. So überwog bei allen lettischen Adlern die Ansitzjagd bei den deutschen Adlern hingegen die Flugjagd.

Auf Grund der intensiveren Bewirtschaftung der landwirtschaftlichen Nutzflächen in den deutschen Untersuchungsgebieten ist die Nahrungsdichte geringer als in Lettland. Die Ansitzjagd war für die Adler in Mecklenburg-Vorpommern daher nur in wenigen Bereichen (zumeist Grünlandbereichen) lohnend. Um die erforderliche Nahrungsmenge zu erlangen, sind die Schreiadler in Mecklenburg-Vorpommern stärker als in Lettland gezwungen, auch Flächen mit geringeren Nahrungsdichten extensiv (große Fläche, hoher Eigenenergieverbrauch) mittels Flugjagd abzusuchen. Hierdurch ist auch die unterschiedliche Größe der home range von Schreiadlern in Mecklenburg-Vorpommern und Lettland zu erklären.

Zu den größten Störungen gehörte in allen untersuchten Gebieten der frei sichtbare Mensch, der in die Nahrungs- oder Horstgebiete eindrang. In den deutschen Untersuchungsgebieten wirkten ferner Hubschrauber und tieffliegende Düsenflugzeuge über den Horstgebieten als starke Störreize.

Sowohl in Mecklenburg-Vorpommern als auch in Lettland wurden größere Siedlungen und deren Randbereiche von den Schreiadlern nicht bejagt. In Lettland sind allerdings die Randbereiche kleinerer Siedlungen oder von Einzelhöfen häufig bejagt worden. In Mecklenburg-Vorpommern gab es hingegen nur einen Adler, der auch am Rande von Siedlungen jagte.

In Lettland mieden die Adler tagsüber stärker frequentierte Straßen und hielten während der Jagdausübung eine Mindestentfernung von ca. 100 m ein. Sie jagten aber in den frühen Morgenstunden vor Einsetzen des Berufsverkehrs direkt an diesen Straßen. In Mecklenburg-Vorpommern mieden die meisten Adler generell stark belegte Straßen und hielten während der Jagd auch Mindestentfernungen von ca. 100 m ein.

Zur Sicherung der Schreiadlerlebensräume im Norddeutschen Tiefland werden folgende Schutzerfordernisse flür Nahrungs- und Horstreviere abgeleitet:

Die Konzentrationsräume mit Schreiadlerbrutvorkommen müssen als großräumige unzerschnittene Landschaften erhalten bleiben, so daß Störpotentiale verschiedenster Art sich nur auf die Randzonen auswirken können. Hierzu ist es notwendig, daß eine Infrastrukturentwicklung (insbesondere Verkehrswegenetz) in diesen Räumen nur restriktiv zugelassen werden kann.

Da sich die Hauptjagdgebiete der Schreiadler in einem Radius von ca. 3 km um den Horst herum befinden, sollten Bereiche bis zu 3 km entfernt von Schreiadlerhorsten insbesondere von folgenden raumstörenden Entwicklungen verschont bleiben: Tourismus, Neubegründungen bzw. wesentliche Erweiterungen von Siedlungen (Wohnungsbau, Gewerbe- und Industriegebiete), Errichtung von technischen Anlagen mit erheblich habitatbildverändernder Wirkung (z.B. Windkraftanlagen).

Zur Sicherung der Nahrungsbasis ist in den Jagdgebieten der Schreiadler das Biotopstrukturmosaik in der Agrarlandschaft zu erhalten und ggf. zu fördern (grundwassernahe Standorte: Moore, Sümpfe, Bruchwälder, Röhrichte, Sölle, offene Gräben, Naßstellen (Fehlstellen) innerhalb der Ackerflächen; Hecken, Baumreihen, Solitärbäume, Gebüsche, unbewirtschaftete Weg- und Feldränder).

Die Agrarförderpraxis der EU sollte an ökologische Erfordernisse angepaßt werden. So bedeuten großflächige Raps­ oder Hanfanbaugebiete einen Verlust an Nahrungsflächen für die Schreiadler, während Ackerbrachen oder Getreideschläge kontinuierlich Nahrungsressourcen bieten.

Zur Sicherung der Horstgebiete sind in den Brutwäldern struktur- und unterholzreiche Bestände mit großen Anteilen von geschlossenen Altholzbeständen zu erhalten und zu entwickeln. In diesen Wäldern sind auf Grund von nahrungsökologischen Aspekten die überwiegend vorhandenen hohen Grundwasserstände zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Die Brutwälder sind durch geeignete Maßnahmen möglichst störungsfrei zu halten.



Summary

Key words: Lesser Spotted Eagle, telemetry, home range, habitat utilisation, hunting, time budget, disturbance factors

Home range size, habitat utilisation and time budgets of Lesser Spotted Eagles Aquila pomarina During the period 1994-1997 the home range size, habitat utilisation and time budget, of Lesser Spotted Eagles (LSE) were investigated with particular regard to disturbances and fragmentation of the landscape. To this end a total of 9 LSEs (8 males and 1 female) were studied by using conventional radio-telemetry in different natural landscapes in Mecklenburg-Verpommern (Northern Germany) and 6 LSEs (5 males and 1 female) in Latvia.

With regard to size of home range of successfully breeding males it was evident that the home ranges exploited throughout the whole breeding season in Germany were significantly larger than those in Latvia. Thus here the home range size amounted to a mean of 2,711.2 ha, whereas in Latvia the mean was only 1,142.7 ha. The maximum range covered in Germany reached 3,393.8 ha, whilst in Latvia this was only 1,552 ha. The minimum in Germany covered 2,218.5 ha whereas in Latvia only 672 ha. Despite the considerable difference in overall size of home ranges between German and Latvian territories, those in daily use by the eagles studied showed no such marked difference between Germany and Latvia.

Thus the average daily home range of the (successfully breeding) German birds veered between 347.3 ha and 483.8 ha (mean 471.9 ha) and among the successfully breeding Latvian birds between 244.3 ha and 489.3 ha (mean 361.2 ha). Nor did the maximum daily home range size differ substantially, being 1,287.5 ha in Germany and 1,156.0 ha in Latvia.

By all the eagles studied, open landscapes were used far more than forested areas for hunting. In this respect the difference between the Latvian and German birds was negligible. All the males studied in Latvia and most of the German males showed a clear preference for grassland as hunting habitat. In Latvia grassland was on average used more frequently and for longer periods (39%) of the time spent hunting, compared with 24.5% of the time in Germany. The availability of meadows in the Latvian home ranges was correspondingly greater. In the use of arable land for hunting, the proportion was reversed. Thus in Germany, on account of the small proportion of grassland and correspondingly greater amount of arable land in their hunting territory, the eagles also clearly exploited arable areas more extensively than the Latvian birds.

In Germany cereal crops or fields left fallow were preferred for hunting over throughout the whole of the growing season; rape and maize crops, however, were as a rule first used only after the harvest.
With regard to the use of individual hunting methods there was a clear difference. Thus with all the Latvian birds perch-hunting preponderated, while the German birds mainly hunted on the wing.
Due to the intensive cultivation of the suitable farmland in the German study area, the prey density is lower than in Latvia. Hence, for the eagles in Germany perch-hunting was only rewarding in a few places (mostly meadows). In order to obtain the requisite amount of food the LSEs in Germany are compelled to a greater degree than in Latvia to search widely over areas with a low prey density by means of flying (large areas, greater consumption of energy). This also accounts for the difference in home range sizes between Germany and Latvia.

The major disturbance factor in all study areas was the intrusion of human beings in feeding and breeding sites. In the German study areas there were in addition helicopters and low-flying jet aircraft creating an uproar over the nest sites.

Both in Germany and in Latvia larger villages and their surroundings were not hunted over by the eagles. In Latvia, nevertheless, the vicinity of smaller villages and isolated buildings were frequently hunted over. In Germany, however, there was only one eagle which hunted around villages.

In Latvia the eagles avoided busy roads during the daytime and, while hunting, never went within 100 m of them, but they would hunt over these roads in the early hours of the morning, before the onset of traffic. In Germany most of the eagles generally avoided heavily used roads, staying at least 100 m distant from them.

To ensure living space for the eagles in the North German lowlands the following measures can be concluded as necessary to preserve their feeding and breeding places:

The regions with the main concentrations of eagles must be retained as wide, unbroken landscapes, so that the potential disturbance of various kinds can occur only in the zones bordering them. To this end it is essential that any development of the infra-structure (particularly road construction) in these areas should be strictly controlled.

Since the main hunting areas of the LSEs lie within a radius of ca. 3 km from the nest, areas up to 3 km from the nest should be closed to the following disturbing elements in particular: tourism, any substantial enlargement of villages (houses, commercial and industrial estates), technical installations involving substantial changes in the habitat (e.g. windmill generators).

For the protection of the food base in the LSEs’ hunting grounds, the mosaic-like structure of the biotope in the agrarian landscape must be maintained and, if need be, extended (open water, marshes, bogs, wet forests, reedbeds, open ditches, wet- and wasteland and, within the farmland, hedges, rows of trees, lone trees, thickets, unmanaged verges to roads and fields).

The agricultural policy of the EU should be adapted to cater for ecological requirements. Thus, vast expanses of rape or hemp entail a loss of feeding places for the LSE, whilst fallow land or cereal crops provide a continuous source of prey.

For the protection of the nest sites in the forests where they breed, thick undergrowth and plentiful stands of mature trees should be maintained and developed. In these forests, on account of aspects of prey ecology, the preponderantly existing high water levels should be maintained or restored. The forests in which breeding takes place should, by means of appropriate measures, be maintained free from disturbance.